Japan stellt die Beschaffung der geplanten bodengestützten Raketenabwehr ein. Dieser Entscheid wurde im Land der aufgehenden Sonne mit unterschiedlichen Reaktionen aufgenommen. Angesichts der immer aggressiver werdenden chinesischen Politik zeigt Japan klar, welch schwache Position es zwischen den USA und China einnimmt.
Unklarer Einstellungsgrund
Japans Verteidigungsminister kündigte am 15. Juni 2020 unerwartet die Einstellung der für das Jahr 2023 geplanten Einführung des landgestützten Aegis Kampfsystems (Aegis Ashore) an. Dieses System wurde für die Raketenabwehr der NATO in Rumänien 2016 in Betrieb genommen und ist auch in Polen geplant. Als Grund der Absage führte der Verteidigungsminister an, dass der abgeworfene Raketenantrieb des Aegis Ashore (Booster) die Bewohner in der Umgebung des Standortes schädigen könnte. Sollte der Booster auch ferngesteuert werden, um den Aufschlagsort zu bestimmen, seien die Kosten unberechenbar hoch und die Implementation zeitlich aufwändig. Der angegebene Grund und die Erklärung des Ministers rufen Stirnrunzeln hervor. Werden die möglichen Schäden bei Angriffen durch ballistische Raketen und von abgeworfenen Boostern verglichen, ist der angegebene Einstellungsgrund irrational. Japan besitzt bereits das bodengestützte Kurzstrecken-Flugabwehrraketensystem Patriot, welches jedoch bis jetzt keine Diskussionen über die Booster auslöste. Wirklich erstaunlich war aber, dass die Entscheidung für die Einstellung von Aegis Ashore heimlich innerhalb eines kleinen Kreises getroffen wurde. Daher empörten sich viele Politiker und sogar auch Regierungsmitglieder.
Wahl des Radars intransparent
Die japanischen Seestreitkräfte besitzen Aegis-Kriegsschiffe mit dem SPY-1 Multifunktionsradar (zukünftig SPY-6). Die US Navy beschloss die Anwendung von SPY-6, das sich nach erfolgreichen Tests nun in der Produktion befindet. Japan wählte aber überraschenderweise für das geplante Aegis Ashore einen anderen Radar, LMSSR. Dieses Produkt existiert aber vorerst nur im Werbekatalog, und Japan kauft es direkt vom Hersteller, was aussergewöhnlich ist. Wie das Produkt überhaupt bewertet wurde, ist unklar. Die Kompatibilität des LMSSR mit der Rakete und anderen Systemen wird ausserdem noch in Frage gestellt. Bei der Wahl des Radars wurde vom Hersteller die Anwendungsmöglichkeit japanischer Technologien angedeutet, was jedoch später zurückgewiesen wurde.[1] Obwohl das Aegis Ashore System sowohl ballistische Raketen als auch Marschflugkörper abfangen kann, verzichtet Japan auf die Funktionen gegen Marschflugkörper, weil der Kaufpreis dafür weiter gestiegen ist.[2] Diese Entscheidung ignoriert die aktuelle Situation in Ostasien. Als Ersatz wird zum Schutz das Flugabwehrraketensystem der Bodenstreitkräfte eingesetzt, was irrational wirkt.
Kommunikationsmangel auf allen Ebenen
Von Anfang an gab es kontroverse Meinungen über die Einführung von Aegis Ashore. Die japanischen Streitkräfte haben vor allem bei den Seestreitkräften Schwierigkeiten mit der Rekrutierung. Anstelle von Aegis Ashore könnte die Zahl der Kriegsschiffe mit dem Aegis-System (sechs, ab 2021 acht) noch weiter erhöht werden, aber der Mangel an Besatzungsmitgliedern bleibt ungelöst. Es ist zudem ineffizient und vermindert die Schlagkraft der Seestreitkräfte, zwei Kriegsschiffe zur Raketenabwehr immer am gleichen Ort im Japanischen Meer zu positionieren.[3] Für das geplante Raketenabwehr-System war die Zuständigkeit der Bodenstreitkräfte vorgesehen. Ein grosser Teil ihrer Budgets müssten für das Aegis Ashore System und die nötigen Raketen ausgegeben werden, obwohl sie angeblich heute schon an einem zu kleinen Budget leiden, um nur schon Waffen und Zubehör zu unterhalten. Die Seestreitkräfte Japans setzen bereits das Aegis-System ein, dennoch waren sie nicht in die Entscheidungsfindung eingebunden. Die japanische Marine hat bessere Beziehungen zur US Navy, so dass deren Unterstützung bei der Beschaffung von Aegis Ashore möglich gewesen wäre, kommentierte ein ehemaliger Admiral der Marine Japans.[4] Überdies votierte ein ehemaliger General der Bodenstreitkräfte eher für eine verstärkte Entwicklung von elektromagnetischen Waffen als für die Einführung von Aegis Ashore.[5] Die Kommunikation innerhalb des Militärs, aber auch zwischen dem Militär und den Bürokraten im Verteidigungsministerium und der Regierung sollte hinterfragt werden.
Dreigleisige Kriegsführung Chinas auf Hochtouren
Aufgrund der aggressiver werdenden Politik Chinas ist eine solche Strategieänderung nicht optimal, vor allem weil alternative Strategien fehlen. Chinas Expansionspolitik ist offensichtlich. Das neue Sicherheitsgesetz für Hongkong ist eine überhebliche Herausforderung für die ganze Welt, denn gemäss Artikel 38 (Foreign Nationals outside Hong Kong face Prosecution under the Law) gilt das Gesetz für alle Personen auf der Welt.[6] Kanada beendete daraufhin Anfang Juli 2020 das Auslieferungsabkommen mit Hongkong.[7] China agiert geschickt mit seiner dreigleisigen Kriegsführung: medial, psychologisch und gesetzlich. Diese Kriegsführung tauchte erstmals im Jahr 2003 in der Regelung der politischen Arbeit für die chinesische Armee auf. Sie gilt aber nicht nur für die Armee, sondern auch für die Kommunistische Partei China. Die gesetzliche Kriegsführung wird jetzt intensiver als vorher angewendet, wie z.B. bei der einseitigen Nennung der eigenen Administrativen Kreise in den territorial umstrittenen Gebieten im Südchinesischen Meer oder dem neuen Sicherheitsgesetz für Hongkong. Die Senkaku-Inseln sind ein Paradebeispiel für die dreigleisige Kriegsführung. Erst seit 1971 behauptet China in den Medien seinen Besitzanspruch auf die Inseln. Danach schickt China immer mehr Schiffe in die Nähe der Inseln. Im Mai 2020 wurde ein japanisches Fischerboot innerhalb der Hoheitsgewässer Japans in der Nähe Senkakus während mehrerer Stunden von zwei chinesischen Küstenwachschiffen verfolgt. China kritisierte danach das japanische Fischerboot wegen Eindringens in chinesisches Hoheitsgebiet. Erstmals hat China somit das Durchführungs- und Geltungsrecht seiner Gesetze behauptet.[8] Die japanische Quasikontrolle der Senkaku-Inseln wird durch mediale und gesetzliche Kriegsführung unterminiert. Die friedliche Durchfahrt im Küstenmeer eines fremden Staates ist erlaubt, aber das Verhalten Chinas hat damit nichts zu tun.
Fazit
In Japan ist die Raketenabwehr wohl nur gegen nordkoreanische Raketen gedacht. Aber eigentlich ist eine noch viel grössere und gefährlichere Bedrohung durch Chinas nun unverhohlene Expansionspolitik präsent. Nach der Einführung des neuen Sicherheitsgesetzes in Hongkong könnten die nächsten Schritte Chinas Richtung Taiwan und danach Okinawa gehen. Obwohl die Situation um Japan herum noch angespannter geworden ist, scheint es nur sehr vage Sicherheitsstrategien zu geben. Die Beschaffung neuer Waffen und Verteidigungssysteme hilft zwar bei der Verringerung der Handlungsfriktionen mit den USA, aber erübrigt angesichts knapper Ressourcen und Finanzmittel eine kohärente Strategie zur Verteidigung des Landes nicht. Dazu ist die Zusammenarbeit innerhalb des Verteidigungsministeriums sowie das Verstehen der Situation durch Bürokraten und Politiker dringend vonnöten. Die 1999 von chinesischen Obersten publizierte Unbeschränkte Kriegsführung (dazu gehört auch die dreigleisige Kriegsführung) muss ernst genommen werden. Gegen eine solche Kriegsführung sind nicht nur konventionelle, sondern auch asymmetrische Gegenmassnahmen nötig. Chinas Grundgedanke zum Territorium ist überdies sehr fragwürdig: das eigene Territorium ändert sich je nach Stärke der eigenen Macht, d.h. je stärker die Macht, desto grösser das Hoheitsgebiet. Diese Idee wurde schon im Jahr 1984 propagiert. China glaubt also nur an die Machtpolitik.
[1] Yoshihiro Sakaue: Aegis Ashore Tosai Radar no sentakuni Senmonka ga daita Iwakan, 28.03.2019. https://gendai.ismedia.jp.
[2] Navalnews: Japan’s Aegis Ashore: A Tale of Two SPYs, 18.06.2020. https://www.navalnews.com.
[3] Toyo Kezei: Aegis Ashore, Haibikeikaku Tettai no Urajijyo, 28.06.2020.
[4] Ibid.
[5] JB press: Aegis Ashore yori Sekaiga urayamu Nippon no Gijyutsu o migake, Kazuhito Mochida, 22.06.2020. htps://jbpress.ismedia.jp.
[6] BBC: Hong Kong’s new security law: Why it scares people, 01.07.2020. https://www.bbc.com.
[7] Reuters: Kanada setzt Auslieferungsabkommen mit Hong Kong aus, 3.07.2020. https://de.reuters.com.
[8] Ishigaki Stadt Parlament: Statement und Stellungnahme. 15.05.2020.